Mein Landmark-Erlebnis
Aus
The
Huffington Post - 5. Juni 2010 Von
Diana
Odasso
Mein Landmark-Erlebnis begann damit, als ein guter Freund von
seinem Landmark-Wochenende erzählte. Insgeheim denke ich "Armer Kerl. Ist
einem Kult beigetreten." Ich hatte die Gerüchte gehört - die strengen
Toilettenregeln, kein Essen/kein Trinken, die endlosen Unterrichtsstunden, die
gezwungene Anwerbung von Freunden und Familienmitgliedern. Landmark wurde aus
Frankreich verbannt. Das Programm hat außerdem den leichten Beigeschmack
von Scientology und all der kalifornischen Selbsthilfe-Gedankenkontrolle a la
Tom Cruise in Magnolia oder des Aufreißers aus Die Perfekte Masche. Meine
Neugierde war jedoch geweckt und so lud ich mich selbst dazu ein, meinen Freund
zu einen Abendkurs zu begleiten und schrieb mich auf der Stelle ein. (Aus rein
journalistischen Gründen natürlich.)
Tag Nummer 1: Ich bin ein Drecksack
An einem
sonnigen Sommerwochenende in New York begebe ich mich in einen kalten Keller in
der 33. Straße, Ecke 8. Avenue und finde mich inmitten eines bunt
zusammengewürfelten Haufens Fremder wieder. (Wo kommen diese Leute her?)
Der Landmark-Coach tritt auf die Bühne - eine unverschämte
Französin. Ich mag sie auf Anhieb und sehe schon, es wird keine
gezwungenen Umarmungen unter ihrem Dach geben. Also was genau sollen wir in den
nächsten ca. fünfundvierzig Unterrichtsstunden tun?
Kurz
gesagt: Die Teilnehmer stehen vor einem Mikrofon und geben ihre Geschichten vor
dem Rest der Gruppe zum Besten. Eine typische Geschichte: Mein nutzloser Vater
verließ uns als ich acht war, ruinierte somit unser Leben und jetzt kann
ich Männern nicht mehr vertrauen. Ich bin mittleren Alters und
alleinstehend. (Meine Güte, wer sind all diese Leute?) Nach der Einholung
einiger Hintergrundinformationen zerfetzt unser Coach in ihrem schneidenden
französischen Akzent ihre Logik. "Er hat euch verlassen, weil deine Mutter
ihn betrogen hat. Weil du ein undankbares Balg bist, hast du nie auf seine
Anrufe reagiert. Tut mir leid, dass du alleinstehend bist, aber es ist deine
Schuld."
Mit Hilfe meiner am College erworbenen Psychologiekenntnisse
werde ich zu einem hervorragenden Beobachter und helfe dabei, diese
hoffnungslosen Fälle zu analysieren (Zwangsstörungen, bipolare
Störungen, total schizophren usw.). Am Ende des Tages jedoch habe ich
genug Geschichten gehört, um unbequeme Ähnlichkeiten festzustellen.
Dann beginnt eine Frau mit wilden Haaren (sie muss wohl 15 Katzen haben) ihre
traurige Geschichte zu erzählen und - verflucht, - plötzlich merke
ich, dass ich genau dasselbe auch schon mal gesagt habe! Entnervt schaue ich im
Raum umher und bemerke den allgegenwärtigen, besorgten Gesichtsausdruck
bei allen Beteiligten.
Ich beginne, dieses merkwürdige Gefühl
von Solidarität zu empfinden, als einer nach dem anderen an das Mikrofon
tritt. "Euer ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, gut dazustehen oder zu
versuchen, nicht das Gesicht zu verlieren." Die Französin hebt Ihre
Augenbrauen - "Und die kleine Stimme in eurem Kopf? Die immer kritisiert und
analysiert?" (Welche kleine Stimme?) "Ja, genau die... Die kleine, anstachelnde
Stimme, die immer alles und jeden verurteilt. Du bist ein Drecksack. Du hast
alle beschwindelt, die dir nahestehen. (Beschwindeln ist ein Landmark-Begriff,
der den Strom von Entschuldigungen bezeichnet, die wir benutzen, um unsere
idiotischen Handlungen zu verschleiern.) Du bist unehrlich. Was aber noch
schlimmer ist, du bist nicht ehrlich darüber, unehrlich zu sein."
Bei uns bleib ein Gefühl der Verzweiflung zurück. Es wird
deutlich - wir sind größere Drecksäcke, als wir dachten. Unsere
Aufgabe ist es also jetzt, es über die Dächer zu schreien. Ich kehre
nach Hause zurück, rufe meine Mutter an und entschuldige mich dafür,
so ein furchtbarer Teenager gewesen zu sein. Sie ist überrascht, findet
meine Entschuldigung süß, fragt aber, ob wir nicht schon seit Jahren
darüber hinweg seien?
Tag Nummer Zwei: Ich bin immer noch ein
Drecksack
Ich komme also mit dem guten Gefühl dort an, um
Mitternacht meine Mutter angerufen zu haben. (Bin ich nicht ein guter Mensch?)
Um genau zu sein, nein. Die Wahrheit ist: Ich bin immer noch ein Drecksack. Dem
wird nach der Pause nochmals Nachdruck verliehen, als die Gruppe dafür
getadelt wird, dass sie zu spät eintrudelt. Wir haben alle eine
mangelhafte Integrität, gebrochene Versprechen wo man nur hinschaut, die
wir dann in Begründungen und Entschuldigungen zu verstecken versuchen. Zum
Schluss werden wir alle nach Hause geschickt und sollen eine lästige
Aufgabe erledigen: Ich soll drei Leute zu der Abendsitzung am Dienstag
einladen. Ich frage meinen Bruder, dessen sofortige Reaktion ist: "Ist das eine
Anwerbung?" (Nun, vielleicht.) Ich gehe schlafen mit einem tiefen Gefühl
der Machtlosigkeit.
Tag Nummer Drei: Ich bin ein sogar noch größerer
Drecksack
Sonntag Morgen kam ich etwas genervt darüber an,
dass ich mein Wochenende in einem Keller verbracht habe, genervt darüber,
dass ich immer noch keinen der berühmten Landmark-Durchbrüche erlebt
habe. Dann tritt eine beherzte Blonde ans Mikrofon und rekapituliert ihren
gestrigen Abend. Sie rief drei praktisch Fremde an und erzählte ihnen
über Landmark. Warum? Erstens, weil sie dachte, es täte ihnen gut.
Zweitens, nun, warum nicht? Ihre Rede löst etwas aus: Ich bin das
Landmark-Spiel zu reserviert angegangen.
In der Pause renne ich
förmlich auf die Straße, mein Handy in der Hand. Ich kann die
Tücken und Fehler in meinen Beziehungen sehen, die Sachen, die ungesagt
blieben, die niemals ausgesprochenen Schmerzen und Vertrauensbrüche. Ich
hab's kapiert. Mein Durchbruch! Ich fange an zu telefonieren... und zu
telefonieren, überschwemme meine Bekannten, Freunde, Ex-Freunde mit
Entschuldigungen. Ich übernehme die volle Verantwortung für die
unbedeutenden und schlimmen Dinge, die ich in meinem Leben getan habe, und
alles was dazwischen liegt. Und was am wichtigsten ist, ich versuche dabei
wertfrei zu bleiben. Und obwohl ich nicht darum gebeten habe, erhalte ich im
Gegenzug Vergebung, Dankbarkeit und sogar Bewunderung. Eine Last wird mir von
den Schultern genommen.
Das Ende des Wochenende verläuft im tiefen
Zen. Alles, was wir haben ist das Jetzt. Wir sind nur für uns selbst
verantwortlich. Das Leben ist bedeutungslos. Ich stelle fest, dass meine kleine
Stimme ganz leise geworden ist, selbst wenn sie einen pikanten
französischen Klang angenommen hat (Du bist immer noch ein großer
Drecksack). Trotz all der negativen Kritiken an Landmark muss ich zugeben, dass
ich eine überwältigend positive Erfahrung gemacht habe.
Ein
Bekannter beschwert sich: "Wenn sie wirklich eine lebensverändernde
Erfahrung versprechen, warum ist es dann nicht kostenlos?" Ich denke insgeheim
an die Kollekte in der Kirche, halte mit meinem Urteil in echter
Landmark-Manier hinter dem Berg und streue vorsichtig ein: "Vielleicht kannst
du am Dienstag Abend mitkommen?"
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